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Aktuelle Lage
Weltweit sind gut 90% der rund 6'900 gesprochenen Sprachen gefährdet. Im Vergleich zu diesen Sprachen befindet sich das Romanische in einer vorteilhaften Lage. Solange die Eltern die Sprache an die nachfolgende Generation weitergeben und solange in der Schule Romanisch unterrichtet wird, hat die Sprache positive Zukunftsaussichten.
Ab dem 19. Jahrhundert geht die Anzahl romanischer Sprecherinnen und Sprecher jedoch immer mehr zurück. Seitdem gibt es nämlich grosse Veränderungen im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Sektor, welche einen Rückgang der Anzahl romanischer Sprecherinnen und Sprecher zur Folge hat. Unterschiedliche Faktoren haben zudem in den letzten gut hundert Jahren den Kontakt des Romanischen mit anderen Sprachen, vor allem mit dem Deutschen, stark verstärkt.
Die Tabelle zeigt, wie sich die Bevölkerung, die sich gemäss Volkszählung 2000 zum Romanischen bekennt, auf die einzelnen Sprachregionen verteilt:
Zurzeit gibt es keine aktualisierten Daten. Seit 2010 hat sich die Volkszählung grundlegend geändert. Die neue Volkszählung kann nicht mehr so genaue Informationen über die Rumantschia geben wie diejenigen aus den Jahren 1990 und 2000. Es ist nun Sache des Kantons Möglichkeiten zu finden, um diese statistischen Informationen trotzdem erhalten zu können.
Die Karten illustrieren die gravierende Verschlechterung der statistischen Lage des Romanischen seit der Zeit der ersten Volkszählung, die eine Frage zum Sprachengebrauch enthielt. Für die heutige Lage illustrieren die betreffenden Karten einerseits den Kern der romanischsprechenden Bevölkerung, andererseits das weiteste romanischsprachige Gebiet, das die Volkszählung wegen der Eingrenzung zur zweiten Frage (Romanisch als bestbeherrschte und/oder in wenigstens einem der erhobenen Gebiete gesprochene Sprache) zu dokumentieren vermag.
Die aktuellsten, jedoch weniger detaillierten Angaben finden sich im statistischen Atlas der Schweiz (siehe unter Sprache).
Die tatsächliche Verbreitung des Romanischen als gesprochene bzw. als verstandene Sprache ist jedoch grösser und lässt sich regional anhand der regelmässigen Umfragen, welche Radiotelevisiun Svizra Rumantscha und die SRG SSR idée suisse seit anfangs der 1990-Jahre betreffend Kenntnisse und Gebrauch des Romanischen durchführen, dokumentieren. Diese Umfragen verdeutlichen teilweise das statistische Bild des Romanischen.
Surselva
In der Surselva (Vorderrheintal ab Laax) beträgt der Anteil der Bevölkerung, die das Romanische im Jahre 2000 als bestbeherrschte Sprache angibt 66,0%. In der oberen Talschaft und in den höher gelegenen Dörfern erhält sich das Romanische besser (Cadi 78,1%, Lumnezia 82,0%), während der mittlere und untere Teil (Foppa 49,6%) immer mehr verdeutscht wird. Hier variiert der Anteil an Personen mit Romanisch als bestbeherrschte Sprache zwischen 29,9% (Ilanz) und 95,6% (Vrin). Nimmt man die Angaben zur Frage nach der zu Hause oder am Arbeitsplatz bzw. in der Schule gesprochenen Sprache hinzu, so beträgt die durchschnittliche Verbreitung des Romanischen 78,5%, mit einem minimalen Anteil von 51,4% (Ilanz) und einem maximalen Anteil von 100% (Pigniu).
Extrem verdeutscht sind die fünf romanischen Gemeinden des Bezirks Imboden, mit einem romanischen Anteil von nur noch 9,9% für das Romanische als bestbeherrschte Sprache (mit Werten zwischen 5,4% in Bonaduz und 19,4% in Trin). Mit den Angaben zur gesprochenen Sprache erreicht das Romanische regional allerdings noch 22,0%, mit Werten zwischen 11,8% (Bonaduz) und 41,3% (Trin).
Sicht auf Laax. © Mathias Kunfermann
Sutselva
Das kleinste romanische Idiom ist das Sutsilvan am Hinterrhein. In seinem Gebiet geben im Jahre 2000 nur gerade 571 Einwohner das Romanische als bestbeherrschte Sprache an (1116 unter Einbezug der gesprochenen Sprache). Am stärksten ist der Anteil im Schamsertal (20,1% bzw. 35,9%), wobei nur die vier kleinen Gemeinden des Schamserbergs noch eine knappe romanische Mehrheit aufweisen (53,8% bzw. 76,1% der insgesamt 355 Einwohner).
Das Schamserberg auf der linken Talseite. © Mathias Kunfermann
Surmeir
Im mittelbündnerischen Verwendungsgebiet des Surmirans ist die Stellung des Romanischen unterschiedlich. Während die meisten Gemeinden im Albulatal (Sotses) heute mehrheitlich deutschsprachig sind, ist das Oberhalbstein (Surses) gemäss Volkszählung 2000 noch relativ stark romanischsprachig. Der Anteil des Romanischen reicht von 9% (Vaz/Obervaz) bis 77,6% (Salouf) als bestbeherrschte Sprache und von 18,9% (Vaz/Obervaz) bis 86,3% (Salouf) als bestbeherrschte Sprache und/oder gesprochene Sprache.
Sicht auf Savognin und die benachbarten Dörfer. © Mathias Kunfermann
Oberengadin
Im Oberengadin (2004 vom Bund als «Agglomeration» eingestuft) ist das Romanische unter dem Einfluss des Fremdenverkehrs in eine kritische Minderheit geraten. Nur gerade 13% der Bevölkerung aller Gemeinden gaben im Jahre 2000 Romanisch als bestbeherrschte Sprache an, 30,8% bekannten sich zum Romanischen als bestbeherrschte und/oder gesprochene Sprache. Nur S-chanf weist noch mit 51,8% (bestbeherrschte Sprache) bzw. 67,9% (bestbeherrschte und/oder gesprochene Sprache) eine knappe romanische Mehrheit auf. Auch in Zuoz verliert das Romanische kontinuierlich an Boden: Im Jahre 2000 haben 25,8% Romanisch als bestbeherrschte Sprache angegeben (1980 mit 38,9% Muttersprache noch relative Mehrheit gegenüber dem Deutschen und Italienischen). Von den beiden Gemeinden des oberen Albulatales, die sich des Puters bedien(t)en, ist Filisur heute völlig und Bergün weitgehend germanisiert (7,3% bzw. 26,7% Romanisch als bestbeherrschte und/ oder gesprochene Sprache).
Sankt Moritz und die eindrückliche Seelandschaft des Oberengadins. © Mathias Kunfermann
Unterengadin
Im Unterengadin sind die Gemeinden durchgehend romanischsprachig, doch auch hier ist der Einfluss des Deutschen spürbar. Im Jahre 2000 bekannten sich 60,4% zum Romanischen als bestbeherrschte Sprache (77,4% gaben an, Romanisch regelmässig in der Familie, in der Schule und/oder Beruf zu verwenden). Lediglich in Scuol und Tarasp ist der Anteil der Bevölkerung, die das Romanische als bestbeherrschte Sprache angibt, unter die 50%-Grenze gefallen: in Scuol unter dem Einfluss des Fremdenverkehrs auf 49,9% (allerdings 70,3% unter Einbezug der gesprochenen Sprache), in Tarasp wegen der Präsenz einer fremdsprachigen Privatschule (Rudolf-Steiner-Schule) in dieser kleinen sonst durchaus romanischsprachigen Gemeinde auf 38,4% (bzw. 46,6%).
Sicht auf Ardez im Unterengadin. © Mathias Kunfermann
Val Müstair
Im Val Müstair, das sprachlich zum Einzugsgebiet des Unterengadins gehört, sind die Zahlen recht vorteilhaft: 74,1% der Bevölkerung gaben im Jahre 2000 das Romanische als bestbeherrschte Sprache an, 86,4% als bestbeherrschte und/oder gesprochene Sprache. Unter diesem letzten Gesichtspunkt liegen alle sechs Talgemeinden über 80%, Fuldera gar bei 92,2%.
Gesamtes traditionelles romanisches Sprachgebiet
Im gesamten traditionellen romanischen Sprachgebiet gaben im Jahre 2000 ein Drittel (32,8%) der Bevölkerung das Romanische als bestbeherrschte Sprache an. Eine romanische Mehrheit ergab sich nur in 63 der 116 Gemeinden des traditionellen romanischen Sprachgebietes bzw. der 208 Gemeinden des Kantons. Dazu kommt, dass diese Gemeinden untereinander kein geschlossenes Sprachgebiet bilden. In manchen Dörfern, in denen das Romanische noch die Mehrheitssprache ist, schwindet zudem die Bevölkerung zusehends oder überaltert. Dagegen sind regionale Zentren, die für die Romanen wirtschaftlich wichtig sind, überwiegend deutschsprachig (Chur, Thusis) oder befinden sich auf dem Weg zur totalen Germanisierung (Ilanz, Domat/Ems, Andeer, Samedan, St. Moritz). Die mehrheitlich romanischsprachigen Regionen (Surselva, Oberhalbstein, Unterengadin, Münstertal) sind aber nach wie vor sprachlich integrationsstark. In diesen Regionen kann man kein gesellschaftlich aktives Leben führen, ohne Romanisch zu können.
Es gibt unter anderem folgende Gründe für den Rückgang des Romanischen:
- Veränderungen in der Wirtschaftsstruktur
Bis zum zweiten Weltkrieg war die romanische Kultur eine reiche, vom Bauerntum, Handwerk und Gewerbe getragene Kultur, die auch die Sprache selbst weitgehend geprägt hat. Heute sind die traditionellen Wirtschaftszweige in Romanischbünden vielerorts einer touristischen Monokultur gewichen. Die wirtschaftliche Entwicklung hat die Romanen auch sprachlich «entwurzelt»: Die alte Sprache der Bauern und Handwerker ist ihnen fremd geworden und die moderne Welt tritt meist mit deutschen und englischen Wörtern in die romanischen Täler.
Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen wirken sich stark auf die romanische Sprache aus: Die Sprachstruktur ist Einflüssen anderer Sprachen stärker ausgesetzt, die Sprachkompetenz schwindet und das Sprachbewusstsein nimmt entsprechend rasch ab.
- Zuwanderung Anderssprachiger
Fast die Hälfte aller verheirateten Romanen schliesst das Ehebündnis mit einem anderssprachigen Partner. Die Tendenz zu diesen «Mischehen» ist steigend. In noch intakten Sprachregionen werden die zugezogenen fremdsprachigen Partner integriert, in anderen, v.a. in Tourismus- und Industrieregionen, findet die sprachliche Integration kaum noch statt. Auch die berufsbedingte Einwanderung wirkt sich immer stärker auf das Romanische aus, zumal ein Zwang zur sprachlichen Integration dank der Zweisprachigkeit der Romanen nicht besteht.
- Abwanderung der Jugendlichen
Viele Jugendliche verlassen die romanischen Täler, um sich auszubilden. Sie kehren nicht immer zurück.
- Kein Zentrum
Im romanischen Sprachgebiet hat jede Region ihr eigenes Zentrum; ein gemeinsames Zentrum fehlt. Unternehmen, welche für die ganze Rumantschia arbeiten, haben ihren Sitz oftmals in Chur – der grösstenteils deutschsprachigen Bündner Hauptstadt.
- Kein gleichsprachiges Hinterland
Deswegen fehlt der Rumantschia z.B. auch die Unterstützung von aussen in Fragen der Spracherneuerung und Sprachplanung.
- Wirtschaftliche Abhängigkeit der Deutschschweiz
Für eine gesunde und lebendige Wirtschaft braucht es natürlich den kommerziellen Kontakt mit Partnern der Deutschschweiz und anderer Regionen.
- Einfluss der deutschsprachigen gedruckten und elektronischen Medien
Das Angebot deutschsprachiger gedruckter und elektronischer Medien ist um ein vielfaches Grösser.
- Wenig Romanisch im öffentlichen Leben und in der Privatwirtschaft
Weil alle Romanen zweisprachig sind, wird das Romanische oft vom Deutschen überrannt.
- Zersplitterung der Sprache in mehrere Schriftidiome
Im Schutz der Bergmassive haben sich in Rätien fünf romanische Sprachidiome herausgebildet, die teilweise so unterschiedlich sind, dass sich die Leute untereinander auf Anhieb kaum in der eigenen Sprache verständigen können. Es braucht eine gewisse Gewöhnung, bis z.B. ein Engadiner und ein Bündner Oberländer einander sprachlich verstehen können, ohne gleich auf die beiden Sprecher geläufige deutsche Sprache zurückzugreifen.
Die Abgeschiedenheit der Idiome und der spärliche Kontakt unter den Romanen der verschiedenen Talschaften haben dazu geführt, dass sich bis heute kein wirkliches romanisches Identitätsgefühl entwickeln konnte. Die Sprachgruppen sind einander weitgehend «fremd» geblieben. Das Fehlen einer romanischen Identität zeigt sich in aller Schärfe, wenn es darum geht, überregionale Projekte zur Förderung der Sprache, wie z.B. eine Standardsprache durchzusetzen.
Die Lia Rumantscha ist auf die Unterstützung aller beteiligten Stellen und Ämter, von den Bundes- und Kantonsbehörden über die Massenmedien und Schulen bis hin zu den verschiedenen Institutionen, Organisationen und Vereinen – die einzelnen Romaninnen und Romanen eingeschlossen – angewiesen.
Verschiedene konkrete Massnahmen zur Erhaltung und Förderung des Romanischen sind heute bereits verwirklicht, z.B.:
- Die Aufwertung des Romanischen zur Teilamtssprache des Bundes
- Die finanzielle Unterstützung der Sprachplanung im Rahmen des Bundesgesetzes über Finanzhilfen für die Erhaltung und Förderung der romanischen und der italienischen Sprache und Kultur vom 5. Oktober 2007
- Die Schaffung und Verbreitung einer gemeinsamen Schriftsprache
- Der systematische Ausbau der romanischen Sprache (Aktualisierung des Wortschatzes, Bereitstellung von Lehrmitteln usw.)
- Der Ausbau des Literaturangebotes (v.a. Kinder- und Jugendbücher aus der Chasa Editura Rumantscha, Literaturateliers, Dis da litteratura usw.)
- Die Stärkung der romanischen Presse durch die Tageszeitung La Quotidiana und durch die romanische Presseagentur Fundaziun Medias Rumantschas
- Die Förderung des Romanischen in der Schule (zweisprachige Schulmodelle, Aufwertung des Romanischen in den Berufsschulen und in den Schulen der Randgebiete usw.)
- Die Festlegung der Territorialprinzips auf der Grundlage des Sprachengesetzes des Kantons Graubünden
- Die Anwendung der romanischen Sprache in den neuen Medien (z.B. romanische Internetplattformen)
- Die Förderung der Jugendarbeit (z.B. Unterstützung der Jugendorganisation Giuventetgna Rumantscha)
- Die Förderung der Verständigung und des Austauschs unter den romanischen Sprachregionen sowie unter den drei Sprachgemeinschaften Graubündens
Die Einwohner der Schweiz, eines seit langer Zeit mehrsprachigen Landes, sind in der Regel nicht zwei- oder mehrsprachig. Viersprachig ist nur das Land (gesellschaftliche Mehrsprachigkeit). Durchgehend zweisprachig Romanisch-Deutsch sind nur die (erwachsenen) Romanen. Viele Romanen sprechen oder verstehen zudem zumindest auch die beiden anderen Landessprachen der Schweiz (Französisch und/oder Italienisch). Lange wurde die Zweisprachigkeit als Gefahr empfunden. Für die Rumantschia stellt diese in der Tat eine Gefahr dar, wenn es nicht gelingt, die einheimische Sprache im angestammten Gebiet als Erstsprache zu festigen und sie auch im wirtschaftlichen Leben auf die gleiche Stufe mit der deutschen Sprache zu stellen. Die anderssprachigen Zuzüger müssen zudem sprachlich integriert werden können.
Aufgabe der Sprachpolitik ist es, die Zweisprachigkeit Romanisch-Deutsch als funktional sinnvoll und kulturell bereichernd zu propagieren. Dazu ist es nötig, die Nützlichkeit des Romanischen in Schule, Beruf und öffentlichem Leben zu fördern und die Anderssprachigen zu motivieren, diese Sprache zu erlernen.
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